Es waren nur ein paar Tage. Okay, zusammengerechnet vielleicht sogar auch nur ein paar Stunden. Und irgendwie fühlt es sich komisch an. So, als wären es Jahre gewesen. Vielleicht sogar Jahrhunderte.
Noch komischer ist nur der dicke Kloß in meinem Hals und die salzigen Tränen, die ich entschlossen von meinen Wangen wische. Das war’s. Irgendwie komisch das zu sagen. So irreal. Eigentlich will ich das gar nicht.
Das Hinter-mir-lassen fühlt sich in diesem Moment nicht so an, wie es sich vielleicht anfühlen sollte. Eher so wie ein Aufgeben. Wie ein Davonlaufen. Wie ein Verdrängen von Tatsachen, die unausweichlich erscheinen.
Der Kloß in meinem Hals scheint noch dicker zu werden. Zeitweise habe ich das Gefühl, dass er mir die Luft zum atmen nimmt. Ich versuche ihn hinunterzuschlucken. Egal, wie. Ich muss diese Gedanken loswerden.
Dass im Hintergrund „All of me“ von John Legend läuft, macht die Sache nicht besser. Aber es ist so etwas wie ein Pflaster. Wenn es mir schlecht geht, höre ich tieftraurige Balladen, die mir das Herz zerreißen, alles noch ein bisschen schlimmer machen, mich in Schmerz einhüllen, wie in eine dicke Decke.
Doch so seltsam es auch klingen mag: Es sind genau diese Songs, die mir helfen zu verarbeiten. Die wie ein Pflaster und Zuspruch für meine verletzte Seele sind.
Ich drehe den Song voll auf. Wieder laufen mir die Tränen über die Wangen. Der Kloß ist mittlerweile verschwunden. Muss er auch, denn genau in diesem Moment brauche ich meine Stimme, um aus vollstem Herzen und mit verletzter Seele mitzusingen:
„Give your all to me
I´ll give my all to you
You’re my end and my beginning
Even when I lose I’m winning
‚
‘Cause I give you all of me
And you give me all of you“
Wow. John Legend singt in diesem Moment genau das, was ich fühle. Und wieder zieht es mir den Boden unter den Füßen weg, als ich in den sechsten Gang schalte, beschleunige und am Ortsausgangsschild vorbei fahre. Wieder rinnen dicke Krokodils-Tränen entlang meiner ohnehin schon nassen Wange. Aber in diesem Moment weiß ich auch, dass ich kämpfen, durchhalten und den Schmerz durchleben muss – obwohl verdrängen und davonlaufen vielleicht der einfachere Weg wäre.
Egal, was es kostet, was es verlangt, wie viele Tränen dafür vergossen werden müssen, wie elendig man sich dabei fühlt, der ganze Schmerz, er ist es wert. Denn wenn das Herz klein und verletzt endlich dem zustimmt, was der Kopf schon so lange gewusst hat, ist man auf dem richtigen Weg.
Ich fahre weiter. Trinke einen Schluck Kaffee und versinke noch tiefer in meinen Gedanken. Es ist verrückt. Obwohl ich so stark daran arbeite, fühlt sich das alles hier immer noch nicht richtig abgeschlossen oder gar verarbeitet an. Ich fühle mich wie in Trance, bin gelähmt.
Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich hoffnungsvoll auf mein IPhone schaue und auf ein Lebenszeichen warte. Seltsam, denn eigentlich bin ich diejenige gewesen, die nichts mehr hören, nichts mehr sehen wollte. Da ist kein berühmtes letztes Wort mehr, auf das ich so hoffe. Da ist nichts. Nur Stille und ein dunkles Display.
„Hätte ich mehr tun können?“, höre ich eine Stimme in mir vorwurfsvoll fragen. Hmm … Gute Frage. Hätte ich? Schon möglich. Ja, vielleicht hätte ich mehr tun können. Vielleicht hätte ich mein altes, sicheres Leben gegen etwas neues, vollkommen ungewisses eintauschen sollen. Ja, vielleicht hätte ich das tun sollen. Aber was ist, wenn das neue, ungewisse Leben zum echten Albtraum wird? So schlimm ist mein altes Leben ja gar nicht …
Genau jetzt ist der Moment, an dem ich mich vor mir selbst erschrecke. Ich höre mich an wie meine Mutter. Schnell versuche ich diese Gedanken wieder zu verwerfen.
Ich glaube, nach all den schlimmen Erfahrungen in der Vergangenheit bin ich zu sehr darauf bedacht, keinen Fehler zu machen.
Ich lehne mich zurück und warte darauf, dass mich ein Gefühl dessen durchströmt, dass meine Entscheidung, mich auf diese eine Person einzulassen, die richtige war. Dass alles sich irgendwie gelohnt hat – egal, wie viele schmerzhaften Momente ich dafür jetzt durchleben muss.
Ich halte kurz inne, doch da ist nichts. Keine große Kehrtwende, kein Cliffhanger, der zeigt, dass all das richtig war. Das einzige was bleibt, sind die Dinge, die ich schon hunderte Mal gesehen habe: große, leere und geflügelte Worte, Ausreden, gebrochene Versprechen und falsche Hoffnungen.
All diese Tränen. All diese Selbstzweifel. Und wofür? Für das? Wirklich? Ich schüttel ungläubig mit dem Kopf.
Wow. Dieser Gedanke sitzt. Aber da ist er, dieser eine kleine Moment, in dem ich langsam das begreife,was eigentlich schon längst aus mir hätte herausplatzen müssen: Ich bin angekommen. Nicht nur an mein örtliches Ziel, sondern auch bei mir selbst.
Langsam steige ich aus dem Auto aus, schmeiße die Tür hinter mir zu. Einfach so. Ich atme tief ein, langsam wieder aus und gehe. Wohin, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass dieser Weg mich zu neuen Ufern führen wird. Zu etwas neuem, einzigartigen, das ich ohne das vergangene Geschehen vielleicht nie entdeckt hätte.